Die „Bach-Stimmung“

Der Titel „Das Wohltemperierte Clavier“ (Klavier im Originalnamen mit „C“) löst bei den meisten Musikern in erster Linie Assoziationen an das bekannte Werk von J. S. Bach aus. Allerdings bedeutet der Ausdruck „wohltemperiert“ für die Musikgeschichte einiges mehr. Gemeint ist ein ganzes Stimmungssystem, das für Bach so wichtig war, dass er für jede einzelne Tonart je ein Präludium und eine Fuge in Dur und Moll komponierte. Die verschiedenen musikalischen Stimmungssysteme haben sich über die Zeit immer wieder verändert. Es stellt sich die Frage, ob die Stimmung, die Bach als wohltemperiert bezeichnete, identisch ist mit unserem heutigen gleichstufigen Stimmungssystem.

BACHS UMFELD

Zur Ermittlung eines Systems, welches Bach als „wohltemperiert“ bezeichnet haben könnte, wird ein Blick auf das Umfeld Bachs geworfen. Die Orgellandschaft ist zur Entstehungszeit des Wohltemperierten Klavieres mitteltönig. Tatsächlich ist vor 1740 kein Beispiel einer Anwendung der wohltemperierten Stimmung in der Orgelmusik nachweisbar. Aus einer Beschreibung der bestehenden Temperatur von Georg Preus geht beispielsweise hervor, dass 1729 alle Orgeln in Hamburg mitteltönig gestimmt waren. Johann Hermann Biermann äußerte 1738 über die Orgel der Heil. Kreuz-Kirche in Hildesheim, dass auch diese Orgel noch in der mitteltönigen Stimmung stand. Des Weiteren sagt er, dass die Orgel der Stiftskirche im Kloster Heiningen um 1730 wieder zurück zur Mitteltönigkeit gestimmt wurde, nachdem sie zuvor einige Jahre nach einem neuen System gestimmt war. Georg Andreas Sorge stellt 1744 fest, dass selbst in neuen Orgeln noch immer die alte mitteltönige Stimmung angewendet wird.

Bach selber lernte erst bei Buxtehude eine wohltemperierte Stimmung kennen, was darauf schließen lässt, dass er vorher ausschließlich mitteltönig gestimmte Instrumente kennengelernt und damit auch mitteltönig gedacht hat. Zumindest auf einige freie Stücke bezogen, lässt sich das von Buxdehude verwendete Tonmaterial aber nicht mit mitteltönigen Kompositionsweisen vereinbaren, er musste also bereits Kenntnisse über eine wohltemperierte Stimmung gehabt haben. Zudem kannte Buxtehude Werckmeister. In dessen „Harmonologia Musica“ findet sich auf Seite 20 ein Widmungsgedicht Buxtehudes. Weitere Beweise, dass Buxtehude auch dessen Stimmung verwendet hat, fehlen allerdings. Auch Werckmeister sagt inhaltlich nichts über Buxtehude aus. Buxtehudes Stimmung kann allerdings auf keinen Fall gleichschwebend gewesen sein, da die Orgeln der Marienkirche in Lübeck nachweislich erst 1782 und 1805 gleichschwebend gestimmt wurden. Bach wird die gewonnenen Kenntnisse über eine temperierte Stimmung später ausgewertet haben.

KIRNBERGER ALS SCHÜLER BACHS

Ein weiterer Anhaltspunkt ist Johann Philipp Kirnberger. Er war Schüler Bachs und dessen Temperierungen haben sicher einen Einfluss auf ihn geübt. So schreibt er u.a. sinngemäß, er habe die Methoden und Lehren Bachs ausgiebig studiert. Das lässt die Vermutung zu, dass seine Stimmungen sehr der ursprünglichen Bach-Stimmung ähneln. Bach selber war allerdings kein Theoretiker. Er hat seine Schüler nicht mit der Berechnung von Tonverhältnissen aufgehalten und auch Kirnberger musste später erst einmal nachvollziehen und berechnen, was er vorher empirisch bei Bach gelernt hatte. Kirnberger äußerte sich aber auch gegen die gleichstufige Stimmung. Er sagte, dass sie unmöglich nach Gehör zu stimmen sei und dass eine gute Temperatur leicht und ohne Monochord oder andere Hilfsmittel einzustellen sein müsse. Herbert Kelletat war 1960 aufgrund dieser Fakten der Meinung, dass die Kirnberger-Stimmungen die Lehre Bachs repräsentieren.

Generell wird oft die Meinung vertreten, Bach sei ein Vorläufer der heutigen gleichstufigen Stimmung, da nur die das Spielen in allen 24 Tonarten ermöglicht. Übersehen wird dabei, dass auch ungleichstufige Stimmungen, wie z.B. Kirnberger III dieses unbegrenzte Transponieren erlauben, mit dem Unterschied, dass eine gewisse Toncharakteristik vorhanden ist. Selbst fis-Dur ist auf einer temperierten Stimmung spielbar. h-Dur, fis/ges-Dur, des-Dur, as-Dur und es-Dur verfügen über pythagoreische Terzen und können für Einstimmigkeit und kontrapunktisches Spiel verwendet werden, während f-Dur, g-Dur und d-Dur teils pythagoreische, teils reine Terzen haben. In c-Dur sind alle Terzen rein. Diese Toncharakteristik spricht gegen die gleichstufige Stimmung, weshalb auch viele Orgeln heute wieder in Kirnberger-Stimmung stehen, wie z.B. die 26-Stimmige Orgel in Wiehl bei Köln.

FRIEDRICH WILHELM MARPURG

Von Bach selber sind keine schriftlichen Äußerungen zu einer Temperierung überliefert, weshalb die Frage nach einer Bach-Stimmung noch immer ein Streitthema ist. Eine Äußerung von Friedrich Wilhelm Marpurg ist erhalten, in der er darüber berichtet, wie Kirnberger ihm erzählt hat, dass Bach alle großen Terzen „scharf“ machte. Diese Angabe ist allerdings sehr ungenau, da sie nur aussagt, dass alle Terzen etwas zu weit gestimmt sind. Die Stärke der Verstimmung und ob sie unterschiedlich stark verstimmt wurden, wird nicht geklärt. Diese Quelle ist außerdem fragwürdig, da die Information aus dritter Hand stammt. Marpurg wirkte erst nach Bach. Als der erste Teil des Wohltemperierten Klavieres fertiggestellt wurde, war Marpurg erst zwei Jahre alt. Des Weiteren galt Marpurg, obwohl er kurzzeitig Kirnbergers Schüler war, als dessen größter Kontrahent, der zudem noch ein großer Anhänger der gleichstufigen Stimmung war.

KELLNERS „BACHSTIMMUNG“

Ein umstrittenes System ist Herbert Antons Kellners „Bachstimmung“, die beweisen soll, dass es genau eine klar definierte „wohltemperierte“ Stimmung Bachs gibt. Kellner nähert sich dem Thema aus theologischer Sicht und sagt, der Dreiklang sei Symbol des Trinitätsgedanken. Er legt fest, dass der Terzschwebewert zumindest für den c-Dur – Akkord identisch mit dem Quintschwebewert ist. Anhand der Grafik im Anhang 5 lässt sich erkennen, dass die Bach/Kellner-Stimmung stark Werckmeister III ähnelt, nur dass das εp auf fünf statt vier Quinten verteilt wird. Der Denkansatz, dass der Dreiklang Symbol der Trinität ist, ist in Verbindung mit der Musik allerdings nicht bewiesen. Außerdem ist in historischen Stimmanweisungen nirgends von der Geschwindigkeit einer Schwebung oder dem Verhältnis verschiedener Schwebungen zueinander die Rede.

DAS TITELBLATT DES „WOHLTEMPERIRTEN CLAVIERES“

Eine neuere Theorie beschäftigt sich mit dem Titelblatt von Bachs Autograph des „Wohltemperirten Clavieres“. Dieses zeigte u.a. eine Verzierung in Form einer Girlande bestehend aus elf Schnörkeln, die als versteckte Stimmungsanweisung gedeutet werden können. Es fällt auf, dass das C aus „Clavier“ direkt mit einem dieser Schnörkel verbunden ist. Die Girlande könnte die elf Quinten einer Stimmung darstellen, das c markiert dabei den Anfang. Einige dieser Schnörkel sind reicher verziert als andere, was auf die Beschaffenheit der Quinten schließen lässt. Die ersten fünf Schleifen stünden dementsprechend für f – c – g – d – a – e und sind reich verziert. Darauf folgen drei sehr einfache Schleifen, die als e – h – fis – cis gedeutet werden können und die Schleifen für cis – gis – es – b, die reicher als die drei zuvor, aber nicht so reich verziert sind, wie die ersten fünf. Anfangs- und Endornament fallen heraus, sodass der Quintenzirkel mit b – f schließt. Der Grad der Verzierung kann als Verkleinerung der Quinten verstanden werden, sodass die ersten fünf Quinten stark verkleinert, die folgenden drei rein und die letzten drei nicht ganz so stark verkleinert sind, wie die ersten fünf. Mehr ist aus dieser Abbildung nicht ersichtlich, obgleich Bradley Lehman 2005 annimmt, die erste fünf Quinten seien um 1/6 εp verkleiner und die letzten drei um 1/12 εp. Dies ist aber stark umstritten, da diese Maße erst später und nur bei mathematisch ausgerichteten Musikern ausgeprägt war. Bach soll außerdem sein Cembalo immer nach dem Gehör gestimmt haben.  Trotzdem kann die Interpretation der Verzierung zumindest als ein weiterer Hinweis betrachtet werden, der dafür spräche, dass Bach ungleichschwebend gestimmt hat.

FAZIT

Die von Bach gemeinte wohltemperierte Stimmung ist nicht mit unserer heutigen Stimmung identisch. Sein Denken war noch stark von der Mitteltönigkeit geprägt und spätere Überlieferungen Bachs durch seinen Schüler Kirnberger sprechen auch für eine ungleichschwebende Stimmung, die zumindest eine starke Ähnlichkeit mit den Kirnberger-Stimmungen aufweist. Dafür spricht außerdem, dass die Kirnberger-Stimmungen im Vergleich zur gleichschwebenden Stimmung leicht und ohne Hilfsmittel anzulegen sind, was auch Bachs Auffassung einer Stimmung entspricht. Zu erkennen ist auch ein roter Faden von Werckmeister über Buxthude, Bach und schließlich Kirnberger, sodass es nicht ausgeschlossen ist, dass Bachs Stimmung auch Komponente der Werckmeister-Stimmungen enthalten haben könnte. Gegen eine gleichschwebende Stimmung spricht zudem das Fehlen der Toncharakteristika. Mathematisch genau kann allerdings nicht gesagt werden, wie die „Bach-Stimmung“ aussieht, es existieren zwar einige Theorien, wie z.B. die von Kellner oder Lehman, die können aber nicht zweifelsfrei Bach nachgewiesen werden. Die Frage nach der originalen ungleichschwebenden Stimmung wird also vermutlich noch länger ein Streitthema bleiben.

Dieser Artikel stammt aus einer eigenen Hausarbeit. Daher finden sich unbeantwortete Fußnoten. Zurück zu Einführung: